Kleine Zeugen des Grauens

Holocaust: Im hessischen Bad Arolsen steht eines der weltgrößten NS-Archive, der Bestand umfasst rund 30 Millionen Dokumente. Der „Internationale Suchdienst“ klärt Schicksale von Opfern auf und führt Familien zusammen. Eine Geschichte des Erfolgs. Und der Empörung

Erschienen am 3.9.2012, Seite 3, Augsburger Allgemeine Zeitung

Norbert Miksche war acht, als ein paar Worte seine Welt zerstörten. Der Mann, sagte ein Nachbarsbub, den du Papa nennst, ist gar nicht dein richtiger Vater. Jahrzehntelang versuchte Miksche, Antworten zu bekommen. Jahrzehntelang hüllte sich seine Mutter in Schweigen. Erst kurz vor ihrem Tod erzählte sie von ihrer verbotenen Liebe zu einem Zwangsarbeiter, einem französischen Kriegsgefangenen, seinem unbekannten Vater.

Auf der Suche nach diesem Mann wandte sich Norbert Miksche an den Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen, eine Zugstunde von Kassel entfernt. Zu der Einrichtung gehört eines der wichtigsten Holocaust-Archive der Welt. Anders als die beiden anderen großen Sammlungen in Yad Vashem und Washington dokumentiert der ITS das Schicksal aller Opfergruppen – seien es Juden, Homosexuelle oder Sinti und Roma. Noch heute, fast 70 Jahre nach Kriegsende, erreichen den Suchdienst jeden Monat mehr als 1000 Anfragen. Zwar wurden viele Informationen noch im Krieg vernichtet. Trotzdem kann der ITS oft weiterhelfen – und Menschen wie Norbert Miksche eine zweite Familie schenken. Dessen französischer Vater ist inzwischen zwar gestorben. In Paris lernte Miksche aber drei Halbgeschwister kennen, mit denen er endlich reden und das Grab besuchen konnte.

Vergilbte Fotos, durchschossene Geldbörsen, ein Rosenkranz

Der Name von Miksches Vater ist einer von 17 Millionen, der im Archiv des ITS zu finden ist. 30 Millionen Dokumente lagern in Bad Arolsen, Häftlingslisten, Krankenakten, Geburtsurkunden, Totenbücher. Zu den bekanntesten zählen eine Liste von Oskar Schindlers jüdischen Zwangsarbeitern, die Gestapo-Unterlagen über Konrad Adenauer oder die Akte des kürzlich verstorbenen Kriegsverbrechers John Demjanjuk. Insgesamt misst das Material rund 26  Regalkilometer. „Alles Beweise gegen ein Fitzelchen an Holocaust-Leugnung“, sagt Susanne Urban. Die promovierte Historikerin leitet seit drei Jahren den Forschungsbereich des ITS, dieser einzigartigen Institution, die seit 1946 in Arolsen ist. Die nordhessische Kleinstadt wurde als Standort ausgewählt, weil sie in der Mitte der vier Besatzungszonen lag und eine intakte Infrastruktur hatte.

Bis heute hat ein internationaler Ausschuss aus Vertretern von elf Staaten die Aufsicht über die Arbeit, darunter Deutschland, Israel und die USA. Die Opfersuche wurde zunächst – welch Ironie der Geschichte – von einer ehemaligen SS-Kaserne aus geleitet. 1952 zog der ITS in einen neuen Backsteinbau unweit des Schlosses, den er heute noch nutzt. Vom Bahnhof in Bad Arolsen sind es 20 Minuten Fußmarsch zum Haupthaus in der Großen Allee. Der Eingangsbereich mit seinen breiten Treppen, dem geschwungenen Geländer und dem Foyer sieht, obwohl inzwischen in die Jahre gekommen, zu pompös für eine solche Institution aus. Der Ausschuss, sagt Susanne Urban, habe nicht damit gerechnet, dass der ITS lange gebraucht und bestehen würde. Deswegen wurde das Haus so gebaut, dass es gut zum Hotel hätte umfunktioniert werden können. Doch dazu ist es nie gekommen. Es gibt noch zu viele offene Fragen an die Geschichte.

Gelegentlich ein Stück Brot zugeworfen

Nach 1945 half der ITS vor allem Menschen, die verschwundene Angehörige suchten. Heute geht es in den Anfragen eher darum, Beweise oder Erinnerungsstücke zu finden. Den Schlüssel zu all den Dokumenten in Bad Arolsen bildet eine komplizierte Namenskartei, die wiederum auf andere Karteien verweist. Das riesige Archiv ist ein Labyrinth voller kleiner Zeugen der Hölle. Im Häftlingspersonalbogen eines Kindes ist als Wohnort der Eltern „KZ Auschwitz“ angegeben. In den Erinnerungen einer Frau heißt es: „Gelegentlich wurde uns ein Stück Brot zugeworfen.“ Vergilbte Fotos, durchschossene Geldbörsen, ein Rosenkranz: Die hier gelagerten Informationen und Gegenstände, so banal sie wirken mögen, werden immer wichtiger in einer Zeit, in der die letzten Überlebenden sterben, die erzählen können.

Noch immer kann der Suchdienst Brieftaschen und Ringe, die die Nazis Häftlingen abgenommen hatten, an Überlebende und Angehörige zurückgeben. Noch immer gelingt es ihm, Familien zusammenzuführen. So wie im Fall der zwei Schwestern, die als Kinder im KZ getrennt wurden und 70 Jahre später zum ersten Mal wieder aufeinandertrafen. So wie bei dem Mann, der in den Kriegswirren seine Mutter verlor und jetzt nach 66 Jahren erfahren hat, wie er wirklich heißt und woher er kommt. Es sind bewegende, schöne Geschichten. Doch der ITS ist in der Vergangenheit immer wieder auch heftig angegriffen worden.

Grund war vor allem, dass der langjährige Direktor Charles Biedermann die Zusammenarbeit mit Forschern und Gedenkstätten kategorisch ablehnte – der Datenschutz. „Wissentliches Verbergen von Holocaust-Dokumenten ist eine Form der Leugnung“, warf ihm ein US-Historiker 2006 vor. Hinzu kam damals, dass Anfragen von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern, für die die Dokumente aus dem ITS oft der einzige Nachweis ihres Schicksals waren, teils erst nach Jahren beantwortet wurden. „Das war ein Skandal“, sagt Jean-Luc Blondel. Ein überraschend klarer Satz aus dem Mund dieses besonnenen Mannes, der den Suchdienst seit 2008 leitet und nach vorne gebracht hat.

Der promovierte Schweizer Theologe mit dem französischen Akzent will Vorgänger Biedermann nicht als Alleinverantwortlichen der Krise darstellen. Blondel betont, einige Staaten wie die USA und Israel hätten heftig dafür gekämpft, dass sich der ITS Forschern öffne. Insgesamt sei der Ausschuss aber dagegen gewesen – man habe in Bad Arolsen nicht die Kapazitäten. Vielleicht ist es aber auch so, dass sich noch nicht jedes Land mit seiner Geschichte voll und ganz auseinandersetzen will. In den Schränken stecken überall Beweise für Taten und Täter. Die Geschichte des Suchdienstes ist auch eine des Verschweigens.

Die Luft ist stickig, der Teppichboden abgenutzt

Weil der Druck auf den Ausschuss irgendwann zu groß wurde, musste Biedermann 2006 gehen. Und nach langen Diskussionen öffnete sich der ITS auch für die Wissenschaft. Mit der Entscheidung begann der größte Umbruch in der Geschichte des Suchdienstes. Er soll zu einem Zentrum für Dokumentation, Forschung und Erinnerung werden. Ein großes Ziel. Bislang ist das Archiv ein reines Magazin, das so angelegt wurde, dass man Schicksale aufklären kann. Aber Wissenschaftler suchen nicht nur nach Namen, sondern nach Themen, Orten, Ereignissen. Damit so etwas überhaupt möglich ist, müssen alle Dokumente erschlossen werden. Gerade wird Inventur gemacht. „Damit wir selbst erst mal erfahren, was wir hier haben“, sagt Susanne Urban.

Wer mit ihr durch die Archivräume geht, fühlt sich zurückversetzt in eine vergangene Zeit. Vergilbte Blätter und alte Ordner stapeln sich bis unter die Decke. Die Luft ist stickig, der Teppichboden abgenutzt, in den Gängen stehen Kartons, an den Wänden alte Plakate. Momentan ist ein Drittel der 300 Mitarbeiter damit beschäftigt, Dokumente zu digitalisieren und zu konservieren. Parallel versucht die Forschungsabteilung, sich mit eigenen Projekten zu profilieren. Der ITS war so lange verschlossen, dass ihn viele Wissenschaftler nicht kennen – dabei schlummern hier viele Themen. Als eine „Goldmine, eine Art institutionelles Gedächtnis des Grauens“ bezeichneten Historiker die Sammlung nach der Öffnung.

Fast 60 Jahre lang hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz den Suchdienst geleitet und verwaltet. Weil Forschung und Pädagogik nicht zu dessen Hauptaufgaben gehören, endet die Ära im Dezember. Dann geht auch Direktor Jean-Luc Blondel, der Schweizer, der seit 30 Jahren Delegierter des Roten Kreuzes ist, der in El Salvador und Jerusalem gegen Folter und für die Rechte von Gefangenen gekämpft hat. Der Wechsel nach Bad Arolsen, sagt er heute, sei keine große Umstellung gewesen. Hier und da hatte er mit Opfern zu tun.

Und lange Zeit war der Internationale Suchdienst ja auch so etwas wie ein Krisengebiet.

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