Ein letztes Tabu: Drei schwerbehinderte Frauen reden über Vorurteile und Selbstzweifel, über Liebe, Lust und Leid im Rollstuhl.
Erschienen am 18.5.2009, Süddeutsche Zeitung
Eva sagt, sie müsse das eben pragmatisch sehen, sich damit abfinden. Jedes Mal wieder ihren Mut zusammennehmen, die Scham beiseite schieben und eine Fremde mitten in die Intimsphäre lassen. Vorsichtig fragt Eva ihre Helferin dann: Kannst du mich und meinen Freund aufs Bett legen? Uns ausziehen? Meine Windeln wegwerfen?
Bei vielem ist Eva, die hier lieber anonym bleiben möchte, auf Unterstützung angewiesen: Wenn sie baden, trinken oder jemanden anrufen möchte. Beim Küssen nicht. Vor einiger Zeit ist sie in eine rollstuhlgerechte Mietwohnung gezogen, in der sie rund um die Uhr betreut wird. „Wir nehmen uns aber die Auszeiten, die wir brauchen“, sagt Eva und blickt lächelnd zu ihrem Freund. Ihre Schwerbehinderung, eine angeborene spastische Lähmung, ist für sie kein Grund, sich alleine zuhause zu vergraben. Im Internet lernte sie Martin über www.handicap-love.de kennen. Er ist ebenfalls Spastiker, sitzt wie sie im Rollstuhl. Die beiden liebsten sich nach kurzer Zeit übers Telefon. „Irgendwie hatten wir da schon das Gefühl, zusammen zu sein“, erzählt Eva, „auch wenn wir uns noch nie gesehen hatten.“ Das Ergebnis: eine Fernbeziehung. Bayern – Rheinland-Pfalz, jedes zweite Wochenende.
Auf Evas Bett im Schlafzimmer türmen sich rotgeblümte Bettdecken und ein großes blaues Kissen. Links daneben der Hebelifter, mit dem sie von ihrem Rollstuhl ins Bett gehievt werden muss, in die Badewanne oder auf die Couch: 15 Minuten echter Kraftakt für die Helferinnen. Manche von ihnen sind offen für Evas Bedürfnis nach Erotik und Sex. Dann können Eva und Martin für ein paar Stunden ihre sperrigen Elektro-Rollstühle vergessen, die unausgesprochenen Fragen und verwirrten Blicke im Park verdrängen, wenn ihre Lippen sich einander nähern.
Im Bett läuft manchmal nichts so, wie es die beiden sich wünschen. Spontaneität ist Fehlanzeige, miteinander schlafen konnten sie noch nie: Eva bekommt ihre Beine kaum auseinander. Martin kann sich nicht drehen, weil die Matratze mit ihren 1,40 Meter zu klein dafür ist. Es ist anstrengend, wenn sie sich gegenseitig befriedigen, ihre Körper wollen einfach nicht gehorchen. „Es ist, wie es ist“, sagt Eva und fügt hinzu: „Das ist kein Gerade-Noch-Ersatz. Wir haben Spaß. Richtig Spaß.“ Die Assistentinnen im kleinen Zimmer nebenan wachen nachts manchmal auf, weil sie lautes Lachen hören.
Evas Behinderung fällt sofort auf, nicht nur wegen des Rollstuhls. Ihre Hände sind verkrampft, sie spricht zögerlich, manchmal undeutlich, trägt eine dickglasige Brille. Trotz alledem will sie gut aussehen: Die braunen, knapp schulterlang gestuften Haare fallen ihr leicht ins Gesicht. Zwei silberne Kettchen schmücken ihren Arm, sie trägt Ringe, eine feine Halskette. Wie viele andere körperbehinderte Frauen hat Eva einen langen Weg zum selbstbestimmten Leben und selbstbestimmten Lieben hinter sich. 1977, als sie vier Jahre alt wird, kommt ein Buch auf den Markt. Sein Titel umreißt, wie stark das Leben Behinderter von außen vorgegeben war: „Können, sollen, dürfen Behinderte heiraten?“
Eva wächst als einziges Mädchen mit Behinderung in einem kleinen Dorf auf. Sie ist beliebt, hat einen großen Freundeskreis. Fast alle der Buben sind gesund. Nur Kumpels. Klar. Einmal im Schwimmunterricht, Eva ist 15, denkt sie: Da ist einer, der will doch mehr. Endlich. Mit Schwimmflügeln an den Armen watet Eva durch das Becken, um ihrem Schwarm näher zu kommen. Sie möchte etwas sagen, merkt gerade noch, dass ihr vom seichtwarmen Wasser übel wird, wie so oft, und übergibt sich. Direkt vor seinem Gesicht. Er ist nie mehr aufgetaucht in Evas Leben. Dafür immer wieder die Frage: Reicht die geistige Liebe vielleicht doch, zumindest für jemanden wie mich?
Knapp eine halbe Million schwerbehinderter Mädchen und Frauen leben in Bayern, über drei Millionen in Deutschland. Viele von ihnen sehen sich weniger als Frau, eher als Neutrum. Eva fühlte sich schon immer zu hundert Prozent weiblich. Ihre Eltern kauften ihr Puppen und rosa Kleider. Die Behinderung und der Rollstuhl sind für Eva lange Zeit normal. Irgendwann aber gehen andere in die Disco oder zum Shoppen und machen ihren Führerschein, damals Evas Synonyme für Selbstbestimmung. Sie wird schief angesehen, weil sie sich – trotz Realschulabschluss – aufgrund der Spastik manchmal nur schwer artikulieren kann. „Meine Pubertät war das Schlimmste, was es in meinem Leben gab“, sagt sie heute. Eva setzt sich zum ersten Mal mit ihrer Behinderung auseinander. Sie denkt an Selbstmord, braucht psychologische Hilfe.
Wenn die 35-Jährige jetzt im Elektro-Rollstuhl ins Büro fährt, hat sie Hosen an und dezente Oberteile ohne tiefen Ausschnitt. „Mir stehen aufreizende Sachen nicht“, meint Eva. Und dann ist da noch die Angst. Was, wenn ich mich einmal nicht wehren kann? Was, wenn jemand versuchen sollte, mich zu vergewaltigen? Eva fürchtet den Windstoß, der einen Rock, ein Kleid hochwehen könnte, so dass man ihre Windeln sieht. Ihr Freund Martin sagt, er liebe und akzeptiere seine Partnerin mit all ihren Problemen und Einschränkungen. Auch mit der Inkontinenz, einer Folge der Spastik. Die Männer, mit denen Eva in den vergangenen Jahren eine Beziehung hatte − alle ebenfalls körperbehindert − verließen sie meist. Sex mit ihr ist eben doch anders. Anders als der mit gesunden Frauen.
Auch mit Martin streitet Eva oft. Weniger wegen Meinungsverschiedenheiten, Auslöser sind meist Reaktionen und Vorurteile ihres Umfelds. Martin war schon einmal verheiratet und musste nach seiner Scheidung wieder zu den Eltern ziehen. Wenn Martin Eva in München besucht, passt sie auf, dass an diesen Tagen nur Assistentinnen bei ihr arbeiten, die mit der Sexualität des Paares umgehen können. Erst der Dienstplan, dann das Pläneschmieden. „Äh, da sind ja Spermaflecken, die mache ich nicht weg“, sagten manche Pfleger, als Eva noch in einer betreuten Wohngemeinschaft lebte. Oder: „Wenn du halb auf deinem Freund liegst, drehe ich dich nicht, damit hab ich echt ein Problem.“
Die Situation in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung ist nicht sehr sexy. Erotik ist tendenziell unerwünscht. Doch manche der fortschrittlicheren Heime organisieren Sexualassistenten, die einem Paar jene Hilfestellung geben, die es braucht, um seine Wünsche und Sehnsüchte alleine ausleben zu können. Andere holen sogar professionelle Sexualbegleiter ins Haus, die den Behinderten Zärtlichkeit und sexuelle Erfüllung auf Zeit schenken. Gegen Geld. Der Beratungsverband pro familia hat herausgefunden, dass diese Dienstleistung bisher fast ausschließlich Männer in Anspruch nehmen. Frauen haben oft andere Bedürfnisse. In Münchens Innenstadt geht das nicht. Die Sperrbezirksregelung. Unlängst startete die grüne Stadträtin Lydia Dietrich eine Stadtratsanfrage zu diesem Thema. Die Aussichten auf eine positive Antwort sind nicht groß.
„Es ist schlimm, dass man als Behinderter irgendwie alles in seinem Leben mit anderen teilen muss, vor allem die Privatsphäre“, sagt Eva. Mittlerweile lebt sie zwar alleine, doch noch immer ist meist jemand bei ihr. Ihre Eltern wohnen Hunderte von Kilometern entfernt. Sie fragen aber oft, wofür Eva ihr Geld ausgibt, was sie anzieht, wen sie besucht. Wäre ein gesunder Partner vielleicht doch besser für ihre Tochter, der Alltag zumindest einfacher? „Sie wollten mich nie wirklich loslassen“, meint Eva. Es werde aber immer besser mit den Jahren, „da ist schon ein Lernprozess im Gang“.
Einige Wochen nach ihrem Kennenlernen wollen Eva und Martin Evas Eltern zum ersten Mal gemeinsam besuchen. Sie sind aufgeregt. Was wird sein, wenn die beiden irgendwann die Lust aufeinander überkommt? Es klingt selbstbewusst und entschlossen, als Eva sagt, dass ihre Mutter eben Pech habe, sollte sie das nicht akzeptieren. Schließlich hätten Martin und sie ihre zwei persönlichen Assistentinnen dabei. „Und welche Frau in meinem Alter nimmt bitteschön Rücksicht auf ihre Mama, wenn sie Sex haben will?“ Doch hinter solchen harschen Worten verstecken sich Ängste und Zweifel in Evas Kopf.
Ihre Sexualität wurde in der Familie früher totgeschwiegen, sagt Eva. Wohl, weil mit dem Wissen, dass das eigene Kind Geschlechtsverkehr hat, irgendwann auch der Gedanke an Enkel aufkommt. Eva mag gar nicht an den „Heidenaufstand“ denken, den sie erwartet, sollte sich ihr größter Wunsch erfüllen: ein eigenes Baby. Das Baby einer Schwerbehinderten. „Aber wäre das Kind dann da, wären meine Eltern die stolzesten Großeltern, die es gibt.“
Allen Widrigkeiten zum Trotz sagen Eva und Martin, ihre Sexualität sei zwar im wahrsten Sinne des Wortes „be-hindert“, aber auch besonders intensiv. Sie müssen sich eben mehr auf den anderen einlassen. Alles dauert länger. Wohl auch, bis sich ihr Kinderwunsch erfüllt. Und bis sie irgendwann zum ersten Mal richtig miteinander schlafen können, bis Eva ihre Beine auseinander strecken und Martin sich auf sie drehen kann, dann, wenn von der Kasse ein größeres Bett genehmigt wird.
Eva ist nun Mitte 30. Die biologische Uhr tickt. Wenn alle eigenen Versuche nicht klappen, wird sie vielleicht ein weiteres Mal ihren Mut zusammennehmen, sagt Eva. Statt ihrer Helferin wird eine fremde, ausgebildete Sexualassistentin da sein. Die beiden ins Bett bringen, ausziehen, aufeinander legen. Und dann erst einmal nicht wieder kommen.
P.S.: Eva und Martin haben ihre Beziehung inzwischen beendet. Die Schwierigkeiten, besonders der Einfluss ihres Umfelds, wurden für das Paar zu groß.
Eine glückliche Familie
Tanja lernt ihren Mann im Internet kennen – heute sind sie zu dritt
Tanja hatte sich riesig gefreut, damals vor sechs Jahren, als sie endlich schwanger wurde. Aber längst nicht jeder mit ihr. „Sie produzieren mutwillig einen neuen Sozialfall für die Bundesrepublik. Ich unterstütze das nicht“, entgegnete die Gynäkologin, bei der Tanja seit zehn Jahren in Behandlung war. Eigentlich hätte die Ärztin wissen müssen, dass Laurenz kein höheres Risiko hatte, ebenfalls behindert zu werden, als jedes andere Kind auch. Ihr eigenes Leben aber hat Tanja während der Schwangerschaft tatsächlich aufs Spiel gesetzt − bewusst. „Es war meine beste Zeit“, erzählt sie. Und eine voller Sorgen. Tanja konnte immer schlechter atmen, weil das Baby Platz brauchte und auf die Lunge drückte.
Tanja wurde mit spinaler Muskelatrophie geboren, fortschreitendem Muskelschwund. Lebenserwartung: drei Jahre. Doch Tanja trotzte den Vorhersagen. Heute ist sie Mitte 30 und nicht nur glückliche Mutter eines gesunden, aufgeweckten Sohnes, sondern auch studierte Sozialpädagogin, selbstbewusst und verheiratet. Es war ein steiniger Weg bis hierhin, aber Tanja hat nicht aufgegeben, wollte kein „Opfer-Behindi“ sein, wie sie es nennt. „Ich wurde nie in Watte gepackt, eher in Disteln gesetzt.“ Inzwischen ist sie ihrer Mutter und Oma dankbar, dass die beiden sie nicht geschont, sondern, sofern es ging, zu einer eigenständigen und emanzipierten Frau erzogen haben. Mit 15 setzt Tanja ihre Krankengymnastik ab und lässt sich lieber ein kleines Nasenpiercing stechen. „Das war meine Sturm- und Drangzeit. Da hab ich lieber gesoffen und geraucht.“
Die Frage, ob ihr Sohn durch eine künstliche Befruchtung entstanden sei, gehörte noch zu den harmloseren Kommentaren nach Laurenz` Geburt. „Für viele Leute sind wir eben keine Frauen, sondern ´die Behinderten´. Die können sich überhaupt nicht vorstellen, dass ich Sex habe“, sagt Tanja. „Unser Sexualleben unterscheidet sich aber sicher auch nicht viel von dem anderer Paare, die schon seit acht Jahren verheiratet sind.“
Doch würde Maike versuchen, ihren Arm zu drehen, ihr Bein anzuwinkeln, ihren Hals zu strecken, nichts würde passieren. Immer muss ihr Mann Christian sie bewegen und in eine Stellung drehen. „Ich bin Empfänger, nie Sender“, sagt sie. Sie kann sich kein Negligé anziehen, um ihn zu verführen. „Wenn er das erstmal machen muss, ist die Luft ja wohl schon raus.“ Wenn Tanja sich Filme und Werbungen ansieht, die von erotischen Anspielungen leben, versucht sie, die Eindrücke wie durch einen Filter abzuschwächen. „Ich denke mir: Puh, da kann ich eh nicht mithalten.“
Vor acht Jahren haben sich Tanja und ihr Ehemann beim Internet-Chatten kennen gelernt. Tanja schrieb ihm schon bald von ihrem Leben im Rollstuhl. „Ich hatte nie Zweifel an unserer Beziehung“, sagt Christian heute, „auch wenn Tanja mir das immer noch nicht ganz abnimmt“. Er hat manch böse Anspielung ertragen. Du kriegst wohl keine andere ab, lästerten sie. Christian hat versucht, das Tuscheln seiner Arbeitskollegen zu überhören, wenn er in den Brotzeitraum kam. Schwieriger war es, die Reaktion seiner Familie zu verdrängen, mit der er wegen Tanja zeitweise keinerlei Kontakt hatte. „Das Besondere an unserer Beziehung ist, dass es kaum böses Erwachen geben kann“, sagt er. Krisensicher seien sie. Und sehr verliebt.
Der harte Weg zur Selbstbestimmung
Lena ist heute Mitte 30 und fängt langsam an, ihren Körper zu akzeptieren
Lena hat einen Panzer gebraucht, um sich zu verstecken. Sie wollte nicht angreifbar sein, nichts von sich preisgeben. Vor allem nicht von ihrer Behinderung, einer frühkindlichen Hirnschädigung. Im Laufe der Jahre wurde Lena stark übergewichtig. „Diese Fettschicht war aber nötig“, sagt sie heute, Mitte 30 und 35 Kilo leichter. Vor einigen Monaten hat sie einen neuen Weg beschritten. Ihr ist es jetzt wichtig, zu wissen, dass sie ihrem Körper nicht mehr schaden muss aus lauter Selbsthass, und dass sie selbst bestimmt, wer ihn berühren darf. „An mir wurde dauernd herumgebastelt, immer war ich falsch“, erzählt Lena. Sie stockt, zögert, muss schlucken. Noch immer fällt es ihr schwer, die Vergangenheit zu erzählen, noch mag sie auch ihren echten Namen nicht lesen in der Geschichte über sich.
Lena kann ihre Muskeln nur schwer koordinieren, ist schwach und mit Hilfe zu zwei, drei Schritten fähig. In ihrer Kindheit entwickelt sich Lena nur langsam. So langsam, dass ihre Behinderung, eine Zerebralparese, bald nicht mehr zu Übersehen ist. In der Pubertät erträgt sie Therapien, bei denen sie höchstens das Oberteil ihres Bikinis anbehalten darf. Die Gymnastikräume sind voller großer Spiegel, die Lena permanent mit dem konfrontieren, was sie nicht sehen will: ihren Körper, den Rollstuhl, die rote, juckende Knötchenflechte. „Mir wurde schwindlig und schlecht“, erinnert sie sich. Wer sollte diesen Körper mögen, wenn sie ihn selbst so verabscheute?
Lena hatte noch nie eine Beziehung und noch nie Sex. „Ich war mir sicher: Wenn jemals einer behaupten sollte, dass er mich liebt, müsste das ein Verrückter sein“, sagt sie. Ein „Devotee“ vielleicht, jener Typ Mann, der auf Defizite steht und an behinderten Frauen seine Fantasien ausleben will. „In mir war regelrecht Panik, dass mich ein Typ ansprechen könnte.“ Als Jugendliche geht Lena manchmal noch ohne Rollstuhl auf Partys, weil sie sich für ihre Behinderung schämt, und sitzt den ganzen Abend regungslos auf dem Tisch. Wenn sie zur Toilette will, muss sie eine Klassenkameradin beim Flirten stören. Fragt einer der Buben, ob sie tanzen möchte, antwortet sie: nein. „Ich habe mich elend gefühlt.“
Mittlerweile gehört die Lena, die sich immer als neutrales Wesen, als asexuellen Menschen verstand, mehr und mehr der Vergangenheit an. „Das Abnehmen zeigte mir, dass ich meinen Körper doch ein bisschen im Griff habe und etwas erreichen kann“, sagt sie. Zu ihrem neuen, glücklicheren Ich gehören schöne Unterwäsche, Röcke mit Pailletten, dunkelrot gefärbte Haare. Und zaghaftes Flirten.