Brennende Fragen

Burnout: Mode-Diagnose oder Epidemie? Eine Krankheit, die offiziell gar keine ist, wird zu einer immer größeren Belastung für die Volkswirtschaft. Eine ganze Industrie macht gute Geschäfte mit dem Begriff. Und während die Betroffenen leiden, spaltet das Syndrom die Fachwelt

Erschienen am 25.6.2011, Seite 3, Augsburger Allgemeine Zeitung

Eigentlich ist alles wie immer, als Günther Ernst an diesem Tag ins Büro kommt. Er setzt sich an den Schreibtisch, an dem er seit 36 Jahren arbeitet, startet seinen Computer, liest die ersten Mails. So wie jeden Tag. Bis er anfängt, wie wild zu zittern. Günther Ernsts Herz rast. Er, der sonst immer alles schafft, seine Arbeit liebt, die Kollegen mag, muss sofort raus. Zunächst nur aus dem Büro, um Luft zu schnappen. Eine Stunde später muss er ganz raus aus der Arbeitswelt, um erst einmal wieder gesund zu werden.

„Das war dann wohl der Notschalter“, sagt Günther Ernst (Name geändert) zu seinem Zusammenbruch im Februar. Vier Monate später sitzt der 52-jährige Systemplaner auf der Terrasse einer psychosomatischen Klinik im Westallgäu. Wenn das Herzrasen nicht gewesen wäre, wäre er niemals zum Arzt gegangen. Für alles hatte er eine Erklärung. Er schlief sicher nur deshalb so schlecht, weil er am Abend ein helles Bier getrunken hatte. Oder ein dunkles.

Glaubt man den Zahlen, werden die Deutschen ein Volk von Ausgebrannten

Günther Ernst bezeichnet sich selbst als extremen Workaholic. Andere würden sagen, er hat einen Burnout. Manche bezeichnen das Syndrom als die neue große Zivilisationskrankheit. Laut einer Studie der Betriebskrankenkassen sind rund neun Millionen Deutsche betroffen. Durch das Problem entstünden Krankenkassen und Volkswirtschaft jährliche Kosten in Höhe von 6,3 Milliarden. Glaubt man solchen Zahlen, sind die Deutschen auf dem Weg, ein Volk von Ausgebrannten zu werden.

Fragt man Ärzte, sprechen einige tatsächlich von einer Epidemie, andere aber von einer Mode-Diagnose. Einer, der zu Letzteren gehört, ist Dr. Christian Peter Dogs, Ärztlicher Leiter der Panorama Fachkliniken in Scheidegg. „Der Begriff Burnout wird überstrapaziert“, sagt er. Mit der Diagnose würden immer mehr Patienten in seine Klinik kommen, die vor zwei Jahren noch gar nicht eingewiesen worden wären.

Ein Arzt spricht von Patienten mit Pseudo-Krankheiten

Durch die große Fensterfront in seinem Büro hat Dogs freien Blick auf die nahen Alpen. Das Zwitschern der Vögel ist der einzige Lärm, der in das Zimmer dringt. „Wer würde hier nicht gerne herkommen?“, fragt der Psychiater. „Es gibt immer mehr Menschen mit einem Pseudo-Burnout“, sagt er, Menschen, denen es das Gesundheitssystem leicht mache, eine Auszeit zu nehmen, Frührente zu bekommen, nicht mehr arbeiten zu müssen. Christian Dogs weiß, dass seine Aussagen polarisieren.

„Natürlich nehmen psychische Erkrankungen zu“, räumt er ein. „Wir müssen aber viel stärker differenzieren, wer wirklich behandlungsbedürftig ist und wer sich nur erholen will.“ Mit einem Interview zu Burnout in einer Ausgabe unserer Zeitung hat Dogs im Mai für Missmut unter Fachkollegen und Lesern gesorgt. „Dabei möchte ich nur, dass wir die Betten frei kriegen für die, die sie wirklich brauchen.“

So wie Günther Ernst. Der 52-Jährige konnte die stationäre Therapie vier Monate nach seinem ersten Zusammenbruch beginnen. Teils müssen Patienten neun Monate warten, bis sie einen Platz in einer psychosomatischen Klinik bekommen. Wenn sie erst einmal erkannt haben, dass sie Hilfe brauchen.

Ernst hat jahrelang „im Funktioniermodus“ gelebt. Sein Alltag war durchgetaktet. Zehn Stunden Büroarbeit, eine Stunde ausruhen, drei Stunden zu Hause weiterarbeiten. Ernst war immer erreichbar, auch am Wochenende. Der Blackberry, das Handy und der Laptop waren seine engsten Freunde. „Ich habe mich mit der Technik vergewaltigt“, sagt er. Nur der Sport blieb ihm zum Ausgleich. Nachts lief der 52-Jährige mit Stirnlampe, um für einen Marathon zu trainieren. Seine Frau habe es irgendwann aufgegeben, ihm zu raten, langsamer zu machen. „Ich habe mir nichts reinreden lassen, so getrieben war ich.“

Getrieben, gestresst, erschöpft: Seit Jahren ist von vielen, die sich schlapp fühlen, zu hören, sie seien ausgebrannt. Der Siegeszug des Burnout-Begriffs begann in den 60er Jahren, als der Engländer Graham Greene die Geschichte „A Burnt-Out Case“ veröffentlichte, ein ausgebrannter Fall. Dabei gibt es das Syndrom als Krankheit offiziell gar nicht. Das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information, eine Behörde des Bundesgesundheitsministeriums, machte eine Studie zum Begriff Burnout. Weltweit gebe es keine einheitlich akzeptierte Definition, kein standardisiertes Vorgehen bei der Diagnostizierung der Störung. „Folglich liegt es gegenwärtig im ärztlichen Ermessen, Burnout zu diagnostizieren“, schreiben die Wissenschaftler.

In Selbstbeurteilungsbögen werden Patienten gefragt, ob sie müde seien, sich über andere ärgerten. „Solche Kriterien sind wachsweich“, beklagt der Arzt Christian Dogs. „Damit kann jeder sagen, das habe ich ja auch.“ Nicht nur solche, die eine Therapie wirklich benötigten.

Doch Krankenkassen zahlen nur bei offiziellen Behandlungsdiagnosen. Daher müssen Ärzte auf andere Indikationen ausweichen, wollen sie einen Burnout-Patienten therapieren. Viele Patienten haben so eine „mittelschwere Episode der Depression“ in ihrer Akte stehen, auch wenn dies zwar manchmal, aber längst nicht immer zutrifft.

Burnout klingt einfach viel besser als Depression

Doch der Burnout-Begriff ist viel beliebter. Theresa Schopper, die Landesvorsitzende der bayerischen Grünen, sagte im April bei einem Vortrag in Mindelheim, in Managementkreisen sei es gar Mode, von Burnout zu sprechen: „Das gehört fast schon dazu.“ Eine Depression klinge längst nicht so schön, bestätigt Christian Dogs. „Burnout ist für viele ja fast wie ein Adelsprädikat.“

Der Depressive gilt als der Kranke, der Schwache. Der Ausgebrannte scheine jemand zu sein, der zupackt, sich aufopfert, ehrgeizig und erfolgreich ist – nur eben zu sehr. Der Burnout-Experte Dr. Thomas Bergner formulierte es in einem Interview so: „Der Begriff Burnout ist so gesehen die offizielle Erlaubnis, psychisch krank zu werden.“

Auch heute noch bestehen in der Gesellschaft oder am Arbeitsplatz Vorurteile gegenüber psychisch Kranken. Es gebe aber keine Anhaltspunkte, heißt es in der Studie des Instituts für medizinische Dokumentation und Information, dass Burnout-Betroffene stigmatisiert würden. Wer ausgebrannt ist, kann mit Verständnis rechnen.

Auch Günther Ernsts Kollegen und Vorgesetzte haben sehr besorgt reagiert, als er von seinem Zusammenbruch erzählte. Ob er etwas falsch gemacht hätte, habe sein Chef ihn gefragt. Aber Ernst wusste ja selber nicht, wie alles kam. Vielleicht sei es eine Sucht nach persönlichem Erfolg, im Sport und Beruf. Eine Sucht, die dahin führte, dass der Systemplaner nicht mehr lebte, sondern nur noch leistete.

Eine ganze psychosomatische Industrie verdient gut daran

Sich zuerst begeistert, irgendwann gestresst zu fühlen, kennen viele Menschen. Und so verdient am Thema Burnout eine ganze psychosomatische Industrie gut. Wer im Internet nach Burnout sucht, erhält Millionen deutschsprachiger Ergebnisse, die meisten davon kostenpflichtige Angebote: Energiekurse, Coachings, Stresstests. Mit ihnen kann jeder schnell feststellen, dass sein „Belastungsniveau weit überschritten“ ist. Passende, oft teure Lösungsvorschläge werden gleich mitgeliefert. So soll auf einer Webseite das Bild eines lächelnden Mannes Hoffnung mit den Worten machen: „Ich habe Burnout besiegt. Du kannst das auch.“ Es folgt eine Annonce für Aminosäuren.

Heilmittelchen, die schnell wirken sollen, bekommt Günther Ernst in der Scheidegger Panoramaklinik nicht. Stattdessen: eine Therapie, die auf Verhaltensänderung setzt. Dass es dauern kann, die Gründe der Erkrankung überhaupt zu finden, mit ihnen umgehen zu können, hat der Systemplaner erst lernen müssen. „Ich bin mit der riesigen Erwartung gekommen: zwei Tage Therapie, und dann merke ich endlich was.“ Nach vier Wochen, so war es Ernsts ehrgeiziger Plan, würde er die Klinik wieder als der Alte verlassen. Bis andere Patienten sagten: Komm erst mal an.

Jetzt geht Günther Ernst viel spazieren, macht Joga und meditiert. Langsame Dinge, die er früher niemals ausprobiert hätte. Zurzeit, sagt Ernst, denke er gar nicht mehr daran, was nach der Therapie komme. Dass er auf jeden Fall wieder dem Beruf nachgehen will, den er so gerne macht, steht aber fest.

Vielleicht, sagt er, müssen es ja nicht immer 70, 80 Wochenstunden sein. „Es gibt ein Leben neben der Arbeit. Das habe ich erst hier entdeckt.“ Vielleicht reichten ja auch 40 Stunden.